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Das Vermächtnis des 10. Oktober
 von Vili Vuk 

In den frühen fünfziger Jahren, als ich von der Dorfschule Sv. Miklavz na Dravskem polju an das Klassische Gymnasium nach Maribor kam, stellte mir eines Tages, als ich in der damaligen Studienbibliothek einige Bücher bestellte, die Bibliothekarin eine ungewöhnliche Frage: „Weißt du, warum wir in Maribor eine Straße des 10. Oktober haben?“ Da ich bei weitem nicht alle Straßen der Stadt kannte, hatte ich keine Ahnung, dass es in Maribor eine solche Straße gibt, noch viel weniger wusste ich, was das Datum bedeutet, das ihr den Namen gab. Da ich ziemlich geprägt war von der kommunistischen Verherrlichung des Volksbefreiungskampfes, der für die slowenische Geschichte auch eine neue Zeitrechnung mit sich brachte1), war ich überzeugt, dass der 10. Oktober ein siegreicher Tag in dem vierjährigen Partisanenkrieg war. Im Gegenteil, belehrte mich die Bibliothekarin, das war der Tag einer slowenischen Niederlage in Kärnten. Die ganze Geschichte machte mir nicht viel Kopfschmerzen, soviel habe ich in Erinnerung, es gefiel mir ein wenig, dass Straßen mit ihren Namen nicht nur Siege, sondern auch Niederlagen ehren. Es schien mir eine ehrliche Haltung, dass die Mächtigen, die die Zeit der revolutionären Vergangenheit so verherrlichten, auch eine Niederlage eingestanden.

Natürlich zeigte mit später, als mich der geschichtliche Horizont mit neuen Informationen bereicherte, der 10. Oktober ein ganz anderes Gesicht. Aber erst die Ereignisse in Triest, bei dem zwischenstaatlichen Zwist zwischen Italien und Jugoslawien, als es plötzlich zu politischen Spannungen kam und wir Studenten, ohne recht zu wissen warum, durch die Straßen marschierten und die berühmte Parole brüllten: „Fremdes wollen wir nicht, das Seine geben wir nicht“, brachten uns die Erkenntnis, dass irgendwo Slowenen leben müssen, die vom Heimatland durch eine Staatsgrenze abgeschnitten sind. In dieser Zeit und wegen der Wirren in Triest erfuhr ich von vielen Slowenen, die eine Staatgrenze schon vor dem Zweiten Weltkrieg von der Heimat getrennt hatte, eigentlich nach dem Ende des Ersten, als neue Staatengebilde bei ihrer Grenzziehung das Prinzip der Nationalität hintanstellten. So blieben die Slowenen in Kärnten in einem deutschen Staat.

Als ich meine Informationen über die Slowenen, die außerhalb der Grenzen der slowenischen Heimat leben, gründlich erweiterte, erkannte ich auch das Vermächtnis des 10. Oktober. In seinem Wesen bewahrt dieses Vermächtnis bis zum heutigen Tag eine einzige fortbestehende Wahrheit, dass es zwei Wahrheiten enthält: für Jugoslawien bzw. Slowenien ist der Abstimmungstag 1920 eine österreichische Manipulation mit der slowenischen Volksgruppe in Kärnten und demnach ein falscher Zug bei der gerechten staatlichen Grenzziehung, bei der die Staatsgrenze das Volk als Ganzes hätte berücksichtigen sollen und es nicht auf drei oder sogar vier Staaten aufteilen dürfen; für Österreich ist der 10. Oktober 1920 ein Kärntner Siegestag und ein Tag erfolgreichen Widerstandes gegen den damaligen neuen jugoslawischen Staat, der offenen Appetit auf Gebiete in Südkärnten zeigte. Der Streit um Sieg oder Niederlage, den von Zeit zu Zeit die erwähnten beiden Wahrheiten auslösen, hat sich auch nach 70 Jahren nicht gelegt; das Volk auf der heute jugoslawischen Seite suchte oft das Unrecht gutzumachen, das mehrheitlich deutsche Volk auf der österreichischen Seite hat sich jeder solchen Andeutung mit aller Macht und Erbitterung widersetzt.

Inwieweit nach 70 Jahren der ungnädige Dialog zwischen zwei Staaten über die Not der slowenischen Volksgruppe in der österreichischen Republik sinnvoll erscheint, ist die Frage gerechtfertigt, ob dieser Dialog noch weitere Jahrzehnte schmerzhaft sein soll. Aus der Sicht der Slowenen als Volk, das nach einer verfehlten Theorie seine Identität durch die Anzahl erhält, ist die Zerfallenheit der Slowenen zwischen Österreich, Ungarn und Italien, außerdem in die Bereiche Aussiedlung, Auswanderung und in neuerer Zeit Gastarbeitertum, eine unvollendete Geschichte, die ihre tragkräftigen Motive vor allem im vorigen Jahrhundert erhielt. In einem aus nationaler Sicht fremden Staat musste man immer die slowenische Eigenständigkeit beweisen, die sich nach eigenem Ermessen im Jahre 1918 verwirklichen sollte. Heute fühlen wir, dass weder vor 70 Jahren noch nach der so oft gelobten neuesten Geschichte, die dem slowenischen Volk die Selbständigkeit hätte bringen sollen, die slowenische Eigenständigkeit erreicht wurde. Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seitdem die Slowenen an den Orten mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung die Selbstständigkeit, Wertschätzung und Verwendbarkeit der slowenischen Sprache beweisen mussten, sei es in Maribor, Celje, Ptuj oder auch in Klagenfurt. Die junge slowenische Kultur, die sich erst mit Trubar2) zu verwirklichen begann, konnte sich in drei Jahrhunderten nicht so unverrückbar auf die eigenen Füße stellen, dass ihr das durch die kulturelle Tradition gefestigte Deutschtum auch nur die Spur von Selbstständigkeit und damit volksbildende Faktoren zuerkannt hätte. Es musste auch so sein, denn die Geringschätzung all dessen, was trotz alledem Jahrhunderte lang das slowenische Volk geformt und entwickelt hatte, konnte bei den Slowenen nicht nur ruhiges Blut bewahren.

Die deutsche Geringschätzung der slowenischen Sprache brachte eine der schlimmsten Spannungen hervor, die den sogenannten slowenischen Volkskampf verursachten. Noch vor einem guten Jahrhundert haben deutsche Marburger Kreise die slowenische Bevölkerung, vor allem Leute mit höherer Bildung, zu überzeugen versucht, dass die slowenische Sprache unmöglich schöpferisch und öffentlich verwendbar sein kann. Man hielt sie für einen drittklassigen Dialekt, der sich nicht zu einem vollständigen sprachlichen Gebrauch entwickeln konnte. Ein charakteristisches Beispiel für die geringschätzige Haltung den steirischen Slowenen gegenüber war der Kampf um das Slowenische Gymnasium in Celje. Wie der Geschichtswissenschaftler Franjo Bas (Nationale Kämpfe in Maribor vor dem Ersten Weltkrieg in dem Sammelwerk „Boj za Maribor 1918-1919“, Maribor 1988) schreibt, hat bei den slowenischen Bemühungen um das Gymnasium in Celje R. Foregger gefragt: „Was will denn ein Volk mit einer Million Seelen im kulturellen Wettkampf mit den Franzosen, Engländern, Amerikanern oder Polen schon Schöpferisches hervorbringen?“ Bei Foregger ging es offensichtlich darum, einem Volk mit nur „einer Million Seelen“ das Recht auf Selbstständigkeit und kultureller Eigenständigkeit abzuerkennen. Die Verwendung des quantitativen Kriteriums, also der Anzahl, bei der Beurteilung der nationalen Identität ist ein Rassismus eigener Prägung, der nationale Rechte nach der Größe bemisst und dadurch einem kleinen Volk für immer die Größe der Nationalität zu erleben verwehrt.

Auf der Grundlage solcher ständiger Spannungen, die in der Vergangenheit die deutsche Schutzmacht dem slowenischen Volk verursachte, ist unter den größeren und bedeutenderen slowenischen nationalen Aktionen auch die Initiative des Bischofs Anton Maria Slomsek zu verstehen, der die Übersiedlung des Bischofssitzes der lavantinischen Diözese von St. Andrä in Kärnten nach Maribor im Jahre 1859 nicht nur als praktische und behördliche Maßnahme verstand, sondern auch als Versuch, das Slowenentum innerhalb der Diözesangrenzen zu festigen. Als Folge dieser Maßnahme von Slomsek wurden sicherlich die Grundlagen für den slowenischen Nationalstaat gelegt, der im Rahmen des Königreiches SHS und des späteren Königreiches Jugoslawien entstand. Auch General Rudolf Maister, der am Ende des Ersten Weltkrieges von Maribor ausging, neben der damaligen Untersteiermark auch Slowenisch-Kärnten zu befreien, wollte nur alle Slowenen innerhalb der Grenzen eines slowenischen Nationalstaates sammeln. Dorthin rief ihn unter anderem auch die Unzufriedenheit der Kärntner Slowenen, denen die Drau als neue Grenzlinie zwischen den neuen Staatengebilden nicht gefiel.

Der slowenische General aus Maribor hat mit seinem Heer in November 1918 einen guten Teil des Kärntner Gebietes besetzt und dabei an den Durchbruch zu den Grenzen der slowenischen Volksgruppe gedacht. Aber Missverständnisse mit der slowenischen Regierung in Ljubljana und die Intervention der internationalen Politik haben die Aktionen von Maister in Kärnten zum Stillstand gebracht und auch deshalb erfolgte im Jahre 1920 der 10. Oktober.

Die Folgen sind bekannt; da man aber den Zustand offensichtlich nicht ändern kann, muss sich nicht unbedingt der 10. Oktober als Schmerzenstag behaupten. Ein Schmerzenstag für Slowenien, das nicht alle Slowenen in einem Nationalstaat vereinigen konnte, und ein Schmerzenstag für Österreich, das zwar bei der Abstimmung siegte, aber nur auf seinem Gebiet Slowenen angesiedelt hat, die heute ein Abbild jenes Volkskampfes sind, den das slowenische Volk in der Vergangenheit auf seinem Weg zum Volkstum erlebte. Die nationale Intoleranz der Mehrheit gegenüber der Minderheit, die fortwährend Schuld daran ist, dass man immer wieder etwas „will“, verliert in einer Zeit der modernen politischen Kultur, die nationale Vielschichtigkeit in einem Staat als Vorteil ansieht, ihren Sinn. Das Vermächtnis des 10. Oktober kann also nur lauten: Wenn schon die Integrität eines Volkes von staatlichen Grenzen überzogen ist, sollte dies ein Segen für diesen Staat sein, der damit neben der Mehrheit noch eine Minderheit erhalten hat; denn die sprachliche und kulturelle Verschiedenheit ist nicht nur eine wertvolle und erfreuliche Beigabe zum Selbstverständnis eines großen Volkes, sondern sie bedeutet vor allem Edelmut. Edelmut aber wirkt sich nur positiv auf die Annäherung aus; und 70 Jahre seit der Volksabstimmung sind hoffentlich genug, dass man dies endlich auch im österreichischen Kärnten begreifen und berücksichtigen könnte.

Übersetzung aus dem Slowenischen von Alois Angerer

1) Am Ende des Zweiten Weltkrieges wird in Jugoslawien statt der Bezeichnung „vor“ bzw. „nach Christi Geburt“ die neue Bezeichnung „vor“ bzw. „nach unserer Zeitrechnung“ vorgeschrieben.

2) Primoz Trubar (1508-1586), slow. Reformator und Begründer der slowenischen Schriftsprache.


© zeitdokument / reinhard eberhart zum seitenanfang
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