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Zwanzig Jahre danach Am 10. Oktober 1970 waren wir, drei Freunde, in Kärnten. Einer fuhr eine „Ente“, der andere trank einen Selbstgebrannten, der dritte hielt Grabreden für uns alle drei, wenn wir nach 20 Jahren sterben sollten. Unserer Königin, dem Studentenmagazin Tribuna, mussten wir einen Bericht über die Lage des von den Slowenen verlassenen slowenischen Volkes in Österreich bringen. Wir erwarteten uns eine Parodie nach Dumas für drei hinterwäldlerische Saufbrüder. Am Vormittag kamen wir nach Klagenfurt zur 50-Jahrfeier der Volksabstimmung. Es war gerade Parade und dabei gab es was zu sehen. Ein alter, gekrümmter, geröteter und angeschlagener Wurstfresser, mit einem grünen Kragen, den fetten Hintern mitten in österreichischen Hosenbeinen, die es einst auch bei uns gab und die wir irharce (Krachlederne) nannten und dem ein Weib mit zahlreichen Schürzen am Leib folgte, war ein Abwehrkämpfer von der Südfront. Er stellte sich in die Reihe und ging mit Festefeierschritten zum Ruhm des Volkes und zur Ehre der österreichischen Fahne in den Samstagmorgen, der kärntnerisch gelb-roten-weißen Sonne entgegen. Ein Künder deutschen Stolzes mit aufgezwirbeltem Schnurrbart. So wehrte er sich einst gegen das serbische Militär mit einem gerechten Grimm im Herzen. Wild war der Kampf für das Volk und Gott gab kund, dass er gerecht war. Und so entstand die große Frage, welche Grabinschrift der Bruder in Kristus bekommen sollte: deutsch oder slowenisch. Am 10. Oktober 1970 gab es in Klagenfurt Gratisbrezeln. Die Parade war herrlich. Weiße und rote Frauen mit großen Ringen von Schminke auf den geschwollenen Wangen fuhren mit dem Pferdegespann und winkten stolz der klatschenden Menge mit Tüchlein in den Farben des siegreichen Volkes zu. Holzknechte und Köhler waren als Zwerge verkleidet; so schön sind in dieser Gegend die Waldbewohner. Weiße Fleischhauer führten ganz echte blutrote Rinderschinken österreichischer Kühe vorüber, österreichische Bäcker jonglierten mit österreichischen Semmeln, geschickte und fleißige kleine österreichische Lehrbuben rührten in einem gewaltigen Kessel österreichischen Senf. Dann fuhren ernste Männer in Jägeruniformen einen dicken Stein heran, auf dem in gotischen Lettern geschrieben stand: Bis hierher und nicht weiter kamen die serbischen Reiter. Und dann kam die österreichische Pfadfinderjugend mit den Bajonetten. Endlich kamen noch die so schwer erwartenden grünen Reihen österreichischer Soldaten, die widerhallend durch den Klagenfurter Mittag marschierten. Danach war Schluss. Lieder und Machtgefühle ließen sich in den Herzen nieder. Volk im Norden, was ist das, fragten wir uns. Ist das ein Volk? Dieser Ekel und diese Trauer über eine abscheuliche Macht einer schrecklichen Parade? Bedeutet Slowene sein immer gezwungen zu sein, ein Slowene zu sein. Warum ist man nicht einfach Slowene? Warum genügt es nicht, einfach zu sein? Vor dieser Frage hat sich der serbische Reiter weit in den Süden abgesetzt und wir drei Freunde haben mit der Königin Tribuna den Slowenen das Sein vor dem Soldatenvolk im Norden geschützt. Es folgten Jahre, schwer wie Blei und unser monumentaler kleiner Präsident, Besitzer von zahlreichen Schlössern, schrieb seinem Volk in einem Brief, dass im Lande mehr Gleichheit und Sozialismus nötig wären. Wir Studenten sind mit einem Loblied an den Präsidenten auf den Lippen von den Barrikaden nach Hause gegangen. Hinter uns gingen viele zu den zugesicherten warmen Mahlzeiten, solche, die es nicht verstanden, richtig verschieden zu sein. Draußen blieben nur jene, die richtig gleich waren. Die waren aber ganz anders als die übrigen. Jedes Jahr zum 1. Mai organisierten sie eine Parade und da gab es was zu sehen! Wichtig war trotzdem nicht der Vorbeimarsch der sozialistischen Blasmusik, die solche Töne hervorbrachte, dass sie die Besten der Mailänder Scala beschämte, wichtig war nicht der Schritt des sozialistischen Boxers mit der Parteifahne, wichtig war nicht die Reihe der sozialistischen Polizeikadetten mit den neuesten Waffen zur Sicherung der Klassendialektik, wichtig war nicht, dass wir alle verstummten unter den undurchdringlichen Blicken der Soldaten, irgendwo auf den Almen zuhause, wo man wegen der Stammesüberlieferung mordet. Bei uns war wichtig, wer auf der Tribüne stand. Dort, wo unter den tiefgründigen Blicken gewisser Bonzen der geschichtlichen Avantgarde die Macht schlief, erwachsen aus den tiefen Höhlen des Karst, voll von Leichen, eine Macht, die mit Schreckenstaten jeden Schrecken vor der Sünde, vor Schuld und Tod ertötete. Eine Macht, die das Übel als etwas Unwichtiges abschuf und mächtiger wurde als die Menschen, die sie trugen. Sozialistisches Volk im Süden, was ist das? Dieser selbstverständliche Haufen Überlebender? Diese Tragik blinder Gläubigen der Wahren Geschichte ohne Sünde? Dieser Siegesstolz auf der richtigen Seite der Niederlage? Diese alltägliche Gleichheit Ähnlicher auf dem Boden, der von Zeit zu Zeit ihr eigen ist? Nur Sein zwischen dem Norden und dem Süden der Geschichte, als ein zitternder Volkshaufen, ist unmöglich geworden. Sogar für die pensionierten Blumenkinder und Abenteurer der Parodie nach Dumas. Man muss dieses Heim des Slowenentums, das jetzt zwischen Nord und Süd lagert, doch einmal aufbauen und beziehen. Hier endet langsam die Geschichte über die Wallfahrt zu den Volksparaden und geht über in die Träumerei von einer glücklichen Hausgemeinschaft. Was soll man sonst mit der Wahrheit anfangen? Die Geschichte vom Volksheim beginnt immer mit seinem Grundriss, der die Grenzen des Volkes aufzeigt. So ist es auch bei uns. Es gibt keinen selbstbewussteren Slowenen als den an den Grenzen. In Ljubljana ist es selbstverständlich, Slowene zu sein, deshalb ist es kaum nötig. An der Grenze aber leben die wahren Slowenen. Ein Volk, das keinen selbstständigen geschichtlichen Grundriss hat, bildet von der natürlichen, immer neue Impulse gebenden Mitte aus keinen fließenden Übergang zu den Völkern am Rande. Im Gegenteil. Dort wird das Volk erst scharf. Die Grenze bildet die Schärfe des Volkes, das kein Heim hat und deshalb immer darauf vorbereitet ist, dass man es vertreibt oder verschlingt. Wohl aber fließt die Sprache ins andere Volk über. Die Sprache der Slowenen in Kärnten und im Küstenlande vermengt sich grammatikalisch und rechtschreiberisch mit der deutschen und italienischen. In der Literatur bedeuten Verfehlungen gegen die Sprachregeln und die Dialektgrenzen künstlerische Lebendigkeit. Sprachpurismus erhält die Sprache, wie man ein Tier in Formalin aufbewahrt. Da kann man all die Neuerungen, die mit der Zeit und dem Menschen hereinbrechen, nicht mehr richtig ausdrücken. Verfehlungen gegen Sprachregeln machen die menschliche Sprache lebendig. So ist es auch mit der Sprache an der Grenze, die eine wahre Wunderwelt an Neurungen und entsprechenden Sprachbildungen darstellt, ob das eine puristische Ideologie eines Volkes will oder nicht. Dafür muss sich aber das Volk natürlich irgendwo wie daheim fühlen, dass es niemanden fürchten muss. Dann wird die Sprache an der Grenze zu einem Literaturereignis. Und das Wort an der Grenze wird zum ästhetischen Ausdruck, nicht nur zum politischen. So sieht eine literarische Träumerei vom Volk-Sein in einem gastfreundlichen Hause aus. Aber was soll´s? Nur um eine unüberwindliche Langeweile zu verkürzen? Zwanzig Jahre später ist Schluss mit der Parodie von Dumas. Die Paraden verlieren langsam ihre Macht. Aber nur einstweilen, nur einstweilen. Der serbische Reiter begibt sich wieder zurück nach Norden, der zu unserem Süden wurde. Wieder wird eine Volksabstimmung nötig, dass wir ihn loswerden. Die drei Freunde gibt es auch nicht mehr. Der, welcher Hausgebrannten getrunken hat, trinkt nur noch Wein; Branntwein wurde ihm zu stark. Der Fahrer träumt nicht mehr, denn er wurde Doktor der Geschichtswissenschaften. Und er hielt eine wirkliche Grabrede für den, welcher einst am eingebildeten Grab allen dreien eine hielt. Dieser hat sein Versprechen nicht gehalten, auf den Tod und auf seine Reden zu warten und hat sich selbst getötet. So lagern wir hier auf slowenischen Boden. Übersetzung aus dem Slowenischen von Alois Angerer |
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